„Wir wollen das Zusammendenken ja anregen und nicht stellvertretend ausführen.“
THILO REFFERT
Lieber Thilo, du bist vor zwei Jahren über den Autor Manfred Theisen Adele Kurzweils Geschichte begegnet. Wie war das für dich? Wie hat sich das ergeben?
Manfred und ich waren in Saarbrücken zusammen untergebracht während einer Lesereise, sogar schon zum zweiten Mal, das war Ende 2017. Unsere Lesungen waren vormittags, die Abende haben wir zusammen verbracht. Irgendwann erzählte Manfred auch von seinem Adele-Buch. Ich horchte auf: Graz! Graz kannte ich, da ich seit 2015 öfter am Next Liberty war. Und ich dachte, Adeles Geschichte müsste sich auch auf der Bühne erzählen lassen, zumal auf einer Bühne für junges Publikum in Graz.
Was hat dich daran gereizt, diesen Stoff – zusammen mit Manfred – als Theaterstück für ein junges Publikum zu adaptieren?
Stoffe werden ja oft in verschiedenen Medien gestaltet. Ein Theaterstück als Film gibt es genauso wie ein Buch als Hörspiel. Derzeit werden viele Stoffe als Serien erzählt. Ich sah in dem Stoff, den Manfred in Prosa erzählt hat, das dramatische Potential, die harten Konflikte zwischen den starken Figuren. Und das Theater bot die Möglichkeit, die Geschichte in der erzählten Zeit zu zeigen und auf derselben Bühne die Brücke ins Heute zu schlagen.
Manfred hat in seinem Roman mit der Jugendlichen Mara eine Erzählinstanz geschaffen, die sich – quasi stellvertretend für die jungen Leser*innen – Adele und ihrer Geschichte annähert. Auch im Stück gibt es die Erzählerin Mara, die versucht, sich anzunähern und sich die damaligen Ereignisse und Begebenheiten irgendwie vorzustellen. War das von Anfang an so gedacht? Wie waren deine/eure Überlegungen dazu, gerade bei diesem Thema mit dieser „Vermittlung “ zu arbeiten?
Von der Mara in Manfreds Buch bis zu unserer Mara auf der Bühne war es ein weiter Weg. Eigentlich braucht ein Theaterstück keine Erzählinstanz, so wenig wie ein Film. Denn man sieht ja, was passiert. Wir fanden es aber anmaßend, vorzugeben, wir – die Autoren – wüssten so genau und so vorzeigbar, was der wirklichen Adele damals wirklich passiert ist. Daher brauchten wir eine subjektive Wahrnehmung. Und wir dachten zuerst, es müsste die Erinnerung sein, die Erinnerung von Adeles französischer Freundin, Marianne, die Manfred noch selbst kennengelernt hatte. Im Austausch mit dem Theater – mit dir, liebe Dagmar – haben wir das schließlich verworfen. Wir haben auch versucht, einen fiktiven Autor zu schaffen, gewissermaßen eine Kreuzung aus Manfred und mir, aber das erschien uns zu selbstbezüglich. Erst nach diesen Umwegen sahen wir, was wir an Mara schon hatten: Eine Figur, die Adele nahe ist und sich für ihr Schicksal interessiert.
Im Stück gibt es auf den verschiedenen Etappen der Flucht auch immer wieder Situationen oder Formulierungen, Fragestellungen und Überlegungen, die sehr aktuell sind bzw. stark an Formulierungen und Argumente erinnern, die heute in Bezug auf tagespolitische Ereignisse und Diskussionen zum Einsatz kommen (z. B. „Das Boot ist voll.“) Inwiefern hast du/habt ihr Parallelen und aktuelle Bezüge beim Schreiben fokussiert?
Diese Anklänge und Parallelen gibt es, und sie waren ein sehr wichtiges Motiv in unserer Arbeit an dem Stoff – Motiv hier doppelt verstanden als Beweggrund (wie im Krimi) und als Thema (wie in der Musik). Adele und ihre Eltern müssen ihre Heimat verlassen, müssen Grenzen überwinden und sich neu zurechtfinden und einsortieren. Ich hoffe, dass dieser gewissermaßen innere Blick auf eine Flucht von damals helfen kann, unserer Perspektive auf Flucht und Flüchtende im Heute zu befragen. Dabei haben wir die tatsächlichen Verweise und Anspielungen bewusst knapp gehalten. Wir wollen das Zusammendenken ja anregen und nicht stellvertretend ausführen.
Über das individuelle Schicksal von Adele und ihren Eltern wird ein Stück europäischer Zeitgeschichte thematisiert, das in der, wenn man so sagen kann: „alltäglichen Erinnerungskultur“ relativ präsent ist: In den Medien, in Filmen und Dokumentationen, Romanen und Biografien, im Unterricht wird – nicht nur in Jubiläums- und Gedenkjahren – an den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust erinnert. Aber: Kann man bzw. wie kann/soll/muss man das nachkommenden Generationen (be-)greifbar machen, wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt?
Ja, wirkliche Zeitzeug:innen zu haben, eröffnet einen ganz besonderen Zugang zur Geschichte. Aber Menschen mit ihrer persönlichen Erinnerung gibt es immer nur für einen privilegieren Zeitraum, bis etwa 80 Jahre vor der Gegenwart. Für Zeiten, die weiter zurückliegen, muss man sich behelfen mit fixierter Erinnerung. Aber auch darin kann man als Autor:in Geschichten finden und zum Leben erwecken. Dann werden aus den „toten“ Zeugen ihrer Zeit wieder lebendige Figuren auf der – und das ist wichtig – Bühne unserer Zeit. Diese Zeit, unsere Gegenwart, gibt das Interesse vor, mit dem man als Autor:in den Stoff behandelt und als Publikum das Stück anschaut.
Das Interview führte die Dramaturgin Dagmar Stehring anlässlich der UA im Jänner 2020.
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