NACHGEFRAGT

„Deshalb ist es wichtig, politisch zu sein.“

IM GESPRÄCH MIT DEM AUTOR

Lieber Manfred, du bist Adele Kurzweil 2004 zum ersten Mal begegnet. Wie hat sich das ergeben, wie bist du darauf gestoßen?

Nach einem Vortrag an der Universität Tübingen fragte mich der Dozent Gerhard Schneider, ob ich Interesse daran hätte, die Geschichte der jüdischen Familie Kurzweil literarisch aufzuarbeiten. Ich bin dann nach Südfrankreich in das Städtchen Auvillar gefahren und habe mir dort die Koffer der Familie Kurzweil angeschaut. Der Tübinger Dozent Schneider hatte in dem Ort ein Haus gekauft, sodass ich viel Zeit mit der Familie in Auvillar verbringen und mich in die Geschichte einarbeiten konnte.

Du hast dich dann dazu entschlossen, weitere Nachforschungen anzustellen und auf Basis der/deiner Recherchen ein Jugendbuch zu schreiben. Was hat dich an Adele und der Geschichte ihrer Familie besonders interessiert? Was war dir wichtig, dabei/damit zu erzählen?

Adele Kurzweil hatte Träume und hat alles getan, um später einmal diese Träume zu verwirklichen. Sie wollte Modezeichnerin werden wie Kinder heute Designer, Tischler, Banker oder Architekten werden möchten. Sie wollte niemand etwas Böses, glaubte, Fleiß und eine gute Matura reichen aus. Doch die Politik im Land änderte sich und plötzlich wurde sie wegen ihrer Religion angefeindet. „Geistiger Mob“ erhielt die Oberhand und griff sie und ihre Familie an – mit nichtigen und erfundenen Argumenten. Aber der Mob braucht keine Argumente, er benötigt nur einen Vorwand. Du kannst in einer Gesellschaft alles richtig machen, aber wenn sich die Gesellschaft ändert, bist du auf einen Schlag der Staatsfeind. Deshalb ist es wichtig, politisch zu sein – und dem Mob ggf. Einhalt zu gewähren. Wenn die Würde des Menschen beschädigt wird, seine Privatheit, seine Freiheit bedroht wird oder radikale Kräfte den Staat unterlaufen, reicht es nicht, „brav“ zu sein.

Deine Jugendbücher basieren oft auf realen Ereignissen, Personen und Fakten, die du dann in eine fiktive Handlung verwebst. Wie ist die Idee zu der fiktiven (Rahmen-)Handlung bei „Der Koffer der Adele Kurzweil“ entstanden?

Im Roman gibt es die folgende Rahmenhandlung: Das Mädchen Mara kommt aus Graz in das verschlafene Städtchen Auvillar und stößt dort in einem Tagebuch auf die Geschichte der Adele Kurzweil. Sie verliebt sich heute in einen Jungen, dessen Familie sich damals an den Juden – und an der Familie Kurzweil – schuldig gemacht hat. Mara ist für mich das Bindeglied zwischen damals und heute, ähnlich ist es im Theaterstück. Thilo Reffert und ich wollten den Zuschauern kein Historienstück bieten, sondern sie teilhaben lassen an der Handlung. Mara wird in die damalige Zeit hineingezogen – sie taucht in die Geschichte ein und wieder auf, im Roman und im Theaterstück, der Leser respektive Zuschauer wird zu einem Teil der Geschichte, wie wir auch Teil der Geschichte sind.

Du machst auch zu diesem Buch sehr viele Lesungen an Schulen, bei denen die Jugendlichen auch die Möglichkeit haben, Fragen zu stellen, Feedback zu geben usw. Was ist deiner Erfahrung nach das, was sie an Adeles Geschichte besonders interessiert, berührt, aufregt, bewegt …? Was nehmen sie von der Geschichte dieses Mädchens mit?

Für die Jugendlichen, aber auch für die Erwachsenen ist in jüngster Zeit der Fluchtgedanke zentral. Schließlich hören die Schüler ständig von Flüchtlingen, sitzen in der Schule neben Kindern, die aus Kriegsgebieten fliehen mussten oder aus religiösen und politischen Gründen verfolgt werden. Adele Kurzweil und ihre Familie haben wie diese Flüchtlinge Zurückweisung, existentielle Angst, Verrat, Hass und Verleumdung erlebt. Es ist ein gutes Gefühl, dass heute aus Österreich und Deutschland die Menschen nicht mehr fliehen müssen, sondern Flüchtlinge zu uns kommen, weil wir hier frei sind und es den meisten Menschen gut geht. Daneben mögen die Schüler:innen die Verquickung von Liebes- und Krimigeschichte im Roman.

Denkst du, wir brauchen 75 Jahre nach dem Holocaust eine neue „Erinnerungskultur“? Was könnten Schulen und Bildungseinrichtungen in der Vermittlungsarbeit verändern? Findest du z. B., dass ein Besuch in einem Konzentrationslager für alle Schulen verpflichtend sein sollte?

Ich bin in der BRD aufgewachsen. Bundesrepublik Deutschland. Der andere Teil hieß DDR, Deutsche Demokratische Republik. Schon die Teilung in diese Buchstabenländer BRD und DDR war ein Teil meiner Erinnerungskultur. Und es waren die Bilder von Knochenbergen und all den Gräueltaten der Deutschen, die meine Erinnerung formten, die Erinnerung an den Nationalsozialismus machte den Großteil meiner Schulzeit aus. Dann war da noch der beinharte Onkel, der sich aus Stalingrad zurückgekämpft hatte, der Opa, der im KZ gefoltert wurde, sie alle waren Teil meiner Erinnerung. Jetzt gibt es keine Opas mehr, die vom KZ erzählen, keine Onkel, die von den Gräueltaten berichtet und keine Frauen, die von Deutschen oder Russen oder sonstwem misshandelt wurden. Die Krieger und die Opfer sind meist tot. Erinnern können uns nur noch die Geschichten, die Fotos, Filme, die Buchstaben, die Theaterstücke und Gebäude. Ob jeder ein KZ besuchen sollte? Sie sind Teil unserer Geschichte und damit Teil von uns. Jeder sollte sie sehen, auch die Zuwanderer, sie sollen sehen, dass Deutschland nicht nur Mercedes und Aldi bzw. Hofer ist, sie sollen nie auf die Idee kommen, in Deutschland Minderheiten mit Hass zu begegnen, nie den Holocaust leugnen, keinen seiner Religion, seiner Sexualität oder seines Andersseins wegen angreifen zu wollen. Ich will, dass jeder in der Schule zumindest Auszüge aus Viktor Klemperers Tagebüchern liest und dass sich jeder einmal überlegt, was er in seinen Koffer packt, wenn der Mob ihn jetzt angreift. Ich will, dass jeder einmal bereut, was wir als Nation getan haben. Übrigens: Das wünsche ich mir auch für Nationen wie die USA, Russland, England, Frankreich und wie sie alle heißen, die ständig „gerechte Kriege“ führen. Erinnern ist nur das Vehikel, Bereuen ist der Kern. Erinnern ohne bereuen ist einfach zu wenig. Wir Autoren können die Menschen mitfühlen lassen, sie aufmerksam machen oder ihnen den Spiegel vorhalten. Das ist unser Job. Unser Teil an der Erinnerungskultur.

Jetzt, 16 Jahre nach deiner ersten Begegnung mit Adele, gibt es u. a. auf Basis deiner Recherchen ein Theaterstück. Wie ist das für dich? Und: Wie war der Prozess für dich, diese Geschichte – zusammen mit Thilo – für die Bühne zu adaptieren?

Thilo und auch das Next Liberty – u. a. in Person der Dramaturgin Dagmar Stehring – waren für mich ein Glücksfall. Denn sie haben beide immer wieder neu überlegt, wie wir die Geschichte anpacken könnten – und sie hatten Geduld, viel Geduld, viel mehr Geduld als ich. Ich bin es gewöhnt, zu recherchieren, einen Einfall zu haben und dann eine Geschichte zu Papier zu bringen. Lektorat und basta. Aber das reichte nicht und es war gut so. Schnell war klar, dass wir uns noch einmal die Mara aus dem Buch schnappen, sie ein wenig älter machen

und die Geschichte der wahren Adele über die fiktive Mara erzählen. Klar war auch, dass die Story nicht erst in Südfrankreich beginnt, sondern schon in Graz. Was nimmt Adele mit? Wie verhalten sich die Eltern? Im Buch sind dies keine Aspekte. Im Buch sind sie gleich in Südfrankreich, wo dann auch die gesamte Geschichte spielt. Mara wurde erneut unser Bindeglied zwischen heute und gestern. Thilo sagte mir, dass ein Roman wie Kaffee ist, aber ein Theaterstück wie Espresso. Und genau so ist es, Handlungen werden verdichtet bis sie schließlich voller Energie sind. Du hast nicht so viel Text wie beim Roman, aber ein Theatertext macht mindestens genau so viel Arbeit. Buch und Theaterstück ergänzen sich jetzt perfekt und jedes für sich kann auch alleine stehen, das gefällt mir.

Das Interview führte die Dramaturgin Dagmar Stehring anlässlich der UA im Jänner 2020.
Kurz vor der Wiederaufnahme im November 2023 kam es zu diesem Austausch:

Lieber Manfred, gibt es etwas, was du jetzt, 2023, angesichts der aktuellen Ereignisse ergänzen möchtest? Zum Beispiel eine Analyse der weltpolitischen Lage …

Analyse wäre vielleicht nicht so gut, eher einen Rückzug aufs Humane. Unser Haus auf der Bühne dreht sich ja auch wie der Zeiger auf der Uhr. Und Adele sucht nach Geborgenheit und Liebe in einer kriegstreibenden Welt.

Täglich dreht sich dein kleines Leben,
täglich suchst du deinen Frieden,
kramst nach dem Schlüssel,
um zurückzukehren an einen Ort,
an dem sie dich sein lassen, 
einfach sein lassen.
Aber sie sind noch nicht kriegsmüde,
sie wüten und vernichten –
Menschen.

Täglich dreht sich dein kleines Leben,
täglich suchst du deinen Frieden,
kramst nach dem Schlüssel,
um zurückzukehren an einen Ort,
an dem sie dich sein lassen, 
einfach sein lassen.
Aber sie sind noch nicht kriegsmüde,
sie wüten und vernichten –
Menschen.