„Das Meer hält uns am Leben. Das Meer reguliert unser Weltklima und ernährt uns. Aber das Meer ist nicht unendlich groß. Die Grenzen seiner Belastbarkeit scheinen erreicht zu sein.“
Meeresbiologen Gerwin Gretschel
Lieber Gerwin, du arbeitest mit deiner Meeresschule in Istrien, genauer in Pula, also am Mittelmeer. Was konntest du im Lauf der Zeit vor Ort an Veränderungen und negativen Auswirkungen beim Beobachten der Unterwasserwelt wahrnehmen?
Zuerst einmal muss ich sagen, dass mich die wunderschöne Unterwasserwelt des Mittelmeeres noch gleich fasziniert wie vor über 45 Jahren als ich zum ersten mal in Griechenland und Jugoslawien als Bub schnorchelte. In der Zwischenzeit bin ich Meeresbiologe geworden und weiß viel mehr über das Leben im Meer. Ich weiß aber jetzt auch, dass die Wissenschaft der Meeresforschung noch am Anfang ist. Vor nicht einmal hundert Jahren wurden die ersten Unterwasser Fotos in ein paar Metern Tiefe gemacht, man glaubte, dass der Hai ein Feind des Menschen ist und man war der Meinung, dass in der Tiefsee kein Leben existiert. Das Meer ist auch heute noch sehr schwer für uns zu beobachten. Wir haben große Probleme mit unseren technischen Geräten unter die Wasseroberfläche zu schauen. Alles was an Land so leicht funktioniert, klappt leider im Wasser nicht. Wir sehen immer nur einen sehr kleinen Ausschnitt des Meeres und nie das gesamte System. Daher können wir nur sehr schwer Vorhersagen treffen, wie das Weltmeer sich verändern wird. Moderne Computer können uns dabei unterstützen.
Ich bemerke, dass die Unterwasserwelt sich in den letzten Jahren viel schneller und stärker verändert als noch vor 10, 20 oder 30 Jahren. Ganze Lebensräume wie etwa Seegraswiesen oder Algenwälder gehen stark zurück oder verschwinden sogar ganz. Übrig bleiben oft nur kahle Felsen oder sandige Böden. Das ist so als ob man an Land den Regenwald rodet. Damit gehen tausende Tier- und Pflanzenarten verloren weil sie kein zu Hause mehr haben. Das schwächt das Ökosystem Meer sehr stark. Die Vielfalt der Tiere und Pflanzen ist notwendig damit auch wir Menschen ein gutes zu Hause auf diesem Planeten haben. Vor knapp 20 Jahren wuchsen noch Braunalgen, die armlang waren und zum Teil dichte Wälder bildeten. Sie wurden immer niedriger, aber sie waren noch da. Seit kurzem sind sie ganz verschwunden. Das ist sehr traurig. Ich habe 2006 in meiner Diplomarbeit alleine auf einer solchen Alge über 20.000 kleine Kalkröhrenwürmchen gezählt. Darüber hinaus Korallenmoostierchen, Schlangensterne, Schildbauchfische, Maskenkrabben und vieles mehr.
Seit wenigen Jahren gibt es im Mittelmeer nur mehr einzelne lebende Steckmuscheln. Vor unseren Augen geschieht hier ein Massenaussterben von diesen wunderschönen riesigen Muscheln, die es nur im Mittelmeer gibt. Sie haben mich schon als Junge in Griechenland bei meinen ersten Schnorchelausflügen fasziniert.
Es verschwinden also viele Tiere und Pflanzen, die hier schon seit Tausenden und Millionen von Jahren leben. Auf der anderen Seite kommen einige neue Tier- und Pflanzenarten in unser Mittelmeer, die noch nie hier gelebt haben. Das Problem dabei ist allerdings, dass einige davon hier keine natürlichen Feinde haben und sich so stark vermehren, dass sie weitere heimische Tiere und Pflanzen verdrängen. Diese Einwanderung von fremden Arten passiert natürlich auch ohne den Menschen. Der Mensch fördert das allerdings so stark wie es auf „natürlichem“ Wege niemals passieren könnte. Solche „Problemtiere“ sind im Mittelmeer zum Beispiel Kaninchenfische, Rotfeuerfische, die Meerwalnuss (eine Rippenqualle), einige Krebse, Weichtiere und viel sehr kleines Getier. Auch Pflanzen sind bei den Einwanderern dabei. Zum Beispiel eine Grünalge namens Caulerpa taxifolia. Sie ist vor vielen Jahren aus Versehen aus Aquarien in Frankreich ins Mittelmeer gespült worden und hat dort ein neues zu Hause gefunden. Die Wissenschaftler sind sich noch nicht einig, ob sie im Mittelmeer Schaden anrichtet, weil sie andere Pflanzen verdrängt, oder ob sie sogar für viele Tiere einen neuen Lebensraum bildet.
Das alles wäre nicht einmal halb so schlimm wenn der Mensch nicht auch gleichzeitig ganz viel Schmutz und Gift in unsere Meere brächte. Das geschieht über den Seeverkehr, über die Industrie, über den Tourismus und viele andere Wege. Dadurch wird die Lebenswelt unter Wasser zusätzlich geschwächt. Das Problem sind also zu viele Probleme die gleichzeitig vorhanden sind.
Sind Achtsamkeit und Bewusstsein bei den Menschen die ersten Schritte zur Veränderung? Und kann ich hier in Graz eigentlich etwas gegen die Verschmutzung der Meere tun?
Ja, Achtsamkeit und Bewusstsein sind die ersten Schritte zur Veränderung. Vielleicht sind es sogar die wichtigsten oder einzigen Schritte, die unseren schönen Planeten weiterhin für den Menschen lebenswert erhalten. Ich würde auch noch „Respekt“ als weiteren Schritt anfügen. Mit Respekt gegenüber anderen Menschen, auch wenn sie anders denken oder handeln als man selbst, beginnt eine bessere Welt. Wenn wir das schaffen, dann ist es nur mehr ein kleiner Schritt zum Respekt gegenüber unserer Natur. Respekt gegenüber der Natur – was meine ich damit? In dem Augenblick in dem wir geboren werden, verändern wir die Welt um uns herum. Wir brauchen viele Dinge zum Leben und zum Überleben. Wir können uns also niemals aus dem System herausnehmen. Wir können aber möglichst nachhaltig leben. Wie geht das? Am besten wir stellen uns so oft wie möglich Fragen wie: Was tue ich jetzt und heute? Was brauche ich dafür von meinen Mitmenschen, der Gesellschaft und der Natur? Nehme ich nur oder gebe ich dafür auch etwas zurück? Mache ich nur Dinge, die meinen Komfort erhöhen oder bin ich auch immer wieder bereit dazu auf etwas Komfort zu verzichten um damit meine Umwelt zu schonen? Was kaufe ich mir? Brauche ich das wirklich? Wo wurde es produziert? Was esse ich? Esse ich nur Dinge, die mir ausgezeichnet schmecken oder esse ich hin und wieder etwas, das auch für die Umwelt gut ist und vielleicht nicht zu meinen Lieblingsspeisen zählt? Zu viel Fleisch sollten wir zum Beispiel nicht essen. Jeden Schluck Wasser sollte ich mit Freude und Ehrfurcht trinken. Es könnten Zeiten kommen wo Trinkwasser knapp wird oder gar nicht vorhanden ist. In vielen Ländern des Mittelmeeres muss Trinkwasser aus anderen Ländern teuer und aufwändig herbeigeschafft werden. Einige Länder können sich das gar nicht leisten. Dort müssen deswegen viele Menschen sterben.
Alle diese Dinge würde ich für eine bessere Welt und am Ende auch zum Schutz unserer Umwelt und unserer Meere tun. Es ist egal ob ich in Graz oder in Grönland lebe. Wir sind alle mit dem Meer verbunden. Unsere Welt ist wie ein riesiges Lebewesen. Die Adern und Blutgefäße dieses Lebewesens namens „Erde“ sind die Bäche und Flüsse auf ihr. In ihnen landet beinahe alles was wir in die Umwelt entlassen. Und über diese Adern gelangt dann alles ins Meer. Aus dem Meer geht es zum Teil wieder in die Atmosphäre und gelangt dann über Winde, Wolken und Regen wieder zu uns zurück. Auch über unsere Nahrung, die zu einem sehr großen Teil aus dem Meer kommt, gelangen unsere Abfälle, die wir in die Umwelt abgeben wieder zu uns zurück. Plastik und Mikroplastik, giftige Substanzen zur Herstellung von Funktionskleidung, oder zum Betrieb unserer Handys, Autos und Vieles mehr kommt so wieder zu uns zurück und sogar in unsere Körper bis in die kleinsten Zellen. Wir können es nicht verhindern, dass jeder Mensch mit dem Meer eine Verbindung hat, und das ist gut so. Das Meer hält uns am Leben. Die Hälfte des Sauerstoffs, den wir atmen stammt aus dem Meer. Das Meer reguliert unser Weltklima und ernährt uns. Das Meer übernimmt unsere Abfälle, baut sie wieder ab oder verdünnt sie so stark, dass sie uns nicht mehr schaden. Aber das Meer ist nicht unendlich groß. Die Grenzen seiner Belastbarkeit scheinen erreicht zu sein. Deshalb müssen wir sofort beginnen mit mehr Achtsamkeit zu leben sonst könnte uns das Meer eines Tages im Stich lassen. Und dann kann es auf unserem Planeten sehr ungemütlich für uns werden.
Im Stück gibt es einen depressiven Delfin, einen Hai mit Magenproblemen, manche haben Hautkrankheiten, Atemprobleme etc. .. Welche Auswirkungen hat die Verschmutzung der Weltmeere auf die Meeresbewohner und welche Erkrankungen können entstehen?
Diese Tiere mit genau solchen Krankheiten gibt es auch im wirklichen Meer. Es hat sie auch schon immer gegeben. Krankheiten sind natürlich. In einer gesunden Umwelt werden Tiere und Menschen aber meistens nur dann krank wenn sie älter werden und wenn ihre Zeit gekommen ist. Sie können aber auch schon lange vorher krank werden, auch das ist nichts unnatürliches. Wenn allerdings besonders viele Tiere schon vor ihrer Zeit krank werden und daran sterben noch bevor sie ihr Lebensalter erreicht haben dann ist das ein Zeichen dafür, dass etwas aus dem Gleichgewicht geraten ist. Die Kraft der Selbstheilung ist besonders bei komplizierten Lebewesen wie den Menschen oder anderen Wirbeltieren riesig. Wir können nahezu alle Krankheiten eigentlich selbst überstehen auch ohne Medizin. Diese Selbstheilungskraft bracht viel Energie. Wenn andere Umstände rund um uns herum bereits sehr viel Energie benötigen, dann bleibt weniger Energie für die Selbstheilung. Aus diesem Grund soll man zum Beispiel ins Bett gehen wenn man krank ist, um den Körper zu schonen und ihm genügend Energie zur Selbstheilung zu lassen. Stress kann uns ebenfalls sehr sehr viel Energie kosten und uns krank machen. Stress kann nicht nur durch zu wenig Schlaf, zu viel Arbeit, zu schlechte Nahrung sondern auch durch Gifte in unserer Umwelt auftreten. Mit all diesen Problemen haben nicht nur wir Menschen zu tun sondern auch die Haie, Delfine und viele andere Meerestiere. Sie haben zwar keinen Arbeitgeber, der von ihnen etwas verlangt aber ihr Arbeitgeber ist die Natur. Sie verlangt von ihnen, dass sie ständig daran arbeiten am Leben zu bleiben, und das ist nicht immer angenehm oder einfach für sie. Meerestiere werden auf jeden Fall durch Umweltgifte gestresst oder auch durch die bloße Anwesenheit des Menschen, der ihnen oft keinen Platz mehr zum Leben lässt. Meerestiere brauchen Gebiete wo sie in Ruhe ihre Jungen aufziehen können oder wo sie sich auch selbst einmal ausruhen können. Delfine, Wale, Haie, Schildkröten, Robben und viele andere finden diese Gebiete nicht mehr genügend. Alle diese genannten Tiere, mit Ausnahme der Haie und anderer Fische müssen zum Beispiel Luft atmen. Sie müssen also regelmäßig an die Wasseroberfläche. Dort wartet leider sehr oft der Mensch mit Booten, Schiffen, Netzen oder Harpunen. Auch Touristen können diesen Tieren das Leben zur Qual machen weil sie keinen Atemzug nehmen können ohne aufpassen zu müssen, dass sie nicht von Booten verletzt werden. Das verursacht Stress, vermindert die Selbstheilungskraft und macht die Tiere dann krank noch bevor sie ihr Lebensalter erreicht haben. Wenn dann von diesen Tieren plötzlich nur mehr zu wenige in einem Gebiet vorkommen, dann kann sein, dass sie lokal aussterben oder ganz von diesem Planeten verschwinden.
Was genau passiert mit dem Ökosystem „Meer“, wenn die Verschmutzung zu groß wird?
Das weiß tatsächlich niemand. Wir kennen das Ökosystem Meer noch nicht gut genug. Wir sind erst am Anfang mit der Meeresforschung. Vor 150 Jahren, und das ist noch nicht lange her, dachten wir noch, dass in den tieferen Meeresbereichen kein Leben existiert. Heute wissen wir, dass jeder Liter Meereswasser voll mit Leben ist, egal in welcher Tiefe. Vor 80 Jahren dachten wir noch, dass so viele Fische im Meer sind, dass wir so viele herausfischen können wie wir wollen. Heute wissen wir, dass die Meere bereits überfischt sind. Einige Fischbestände sind sogar so weit befischt, dass selbst mit noch besseren Fischfangmethoden, noch besseren und größeren Netzen und mit computergesteuerten Fanggeräten nicht mehr Fische zu fangen sind, sondern sogar immer weniger. Das nennt man dann „überfischt“. Vor 30 Jahren dachte man, dass Plastik keine Gefahr für das Meer darstellt. Heute wissen wir, dass aus Plastikmüll im Meer Mikroplastik werden kann, welches dann von Meerestieren gefressen wird und über die Nahrung dann in unseren Körper kommt. Seit kurzem weiß man, dass dieses Mikroplastik dann sogar bis in unsere Körperzellen gelangen kann und dann unser Immunsystem (unsere Selbstheilungskraft) stark unterdrücken kann. Wir wissen von den meisten künstlichen Substanzen gar nicht ob und wie sie sich auf die Umwelt auswirken weil jeden Tag neue Substanzen erfunden werden und wir nicht testen können was passieren wird wenn sie einmal ins Meer gelangen. Viele Firmen wollen das auch gar nicht wissen und versuchen es nicht einmal herauszufinden weil sie weniger Geld verdienen könnten wenn sich herausstellt, dass ihre Erfindung schlecht für die Umwelt ist. Das Plastik ist ein gutes Beispiel dafür wie wir uns getäuscht haben als es vor ein paar Jahrzehnten erfunden wurde. Damals waren sich die meisten Menschen sicher, dass es keine schlechten Auswirkungen auf die Umwelt haben wird. Plastik hat aber auch für uns gute Eigenschaften. Unsere tolle medizinische Versorgung, selbst Elektrizität wären zum Beispiel ohne Plastik nicht möglich. Was wir allerdings sicher nicht brauchen sind zum Beispiel Plastikverpackungen, die wir gleich nach dem Auspacken wegwerfen oder Plastikbecher und Plastik-Essbesteck.
Einige Effekte auf Grund von Verschmutzung verstehen wir aber schon ganz gut. Radioaktivität, Erdölverschmutzung, verschiedene andere Umweltgifte oder Überdüngung der Meere durch zu viele Düngemittel in der Landwirtschaft sind Beispiele dafür. Sie alle führen dazu, dass Meerestiere oder Pflanzen und am Ende auch der Mensch viel leichter krank werden und viel zu früh sterben können. Außerdem können dadurch nicht nur Tierarten weltweit aussterben sondern auch ganze Lebensräume. Das sieht man zum Beispiel bei den Seegraswiesen, Algenwäldern, Korallenriffen, Mangrovenwäldern und vielen mehr. Wenn ganze Lebensräume verschwinden, ist das besonders schlimm weil dann ihre Bewohner kein zu Hause mehr haben und damit auch verschwinden. Das Meer verliert dann seine Selbstheilungskraft. Man kann sich auch das ganze Meer wie ein riesiges Lebewesen vorstellen. Und wenn das Meer sich nicht mehr heilen und erholen kann dann haben auch wir Menschen ein großes Problem.
Das Interview führte Dramaturgin Mag.a Tanja Peball
Das Interview zum Download finden Sie HIER.